Interview mit Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq*
[...]
SPIEGEL: Sie scheinen sich in vielem einig zu sein. Und doch haben Sie, Monsieur Houellebecq, kürzlich in einem Gespräch gesagt, Sie als Franzose stünden auf einer höheren Stufe als die Amerikaner.
Houellebecq: Was ich meinte, war, dass das Niveau eines Durchschnittsamerikaners niedriger ist als das eines Durchschnittseuropäers.
Ellis: Das sehe ich genauso.
Houellebecq: Theoretisch müssten die amerikanischen Schriftsteller besser sein als die europäischen.
SPIEGEL: Warum?
Houellebecq: Weil das Land schlechter ist.
Ellis: Ich stimme dem zu.
SPIEGEL: Und praktisch?
Houellebecq: Praktisch ist das Durchschnittsniveau der amerikanischen Literatur höher als das der europäischen.
Ellis: Auch das ist völlig richtig.
Houellebecq: Ich denke diese Situation hat damit zu tun, dass der Roman vor allem das Unglück der Welt widerspiegelt.
[...]
* Auszug aus „Überall Bilder von perfektem Sex“, In: DER SPIEGEL 43/1999
SPIEGEL: Sie scheinen sich in vielem einig zu sein. Und doch haben Sie, Monsieur Houellebecq, kürzlich in einem Gespräch gesagt, Sie als Franzose stünden auf einer höheren Stufe als die Amerikaner.
Houellebecq: Was ich meinte, war, dass das Niveau eines Durchschnittsamerikaners niedriger ist als das eines Durchschnittseuropäers.
Ellis: Das sehe ich genauso.
Houellebecq: Theoretisch müssten die amerikanischen Schriftsteller besser sein als die europäischen.
SPIEGEL: Warum?
Houellebecq: Weil das Land schlechter ist.
Ellis: Ich stimme dem zu.
SPIEGEL: Und praktisch?
Houellebecq: Praktisch ist das Durchschnittsniveau der amerikanischen Literatur höher als das der europäischen.
Ellis: Auch das ist völlig richtig.
Houellebecq: Ich denke diese Situation hat damit zu tun, dass der Roman vor allem das Unglück der Welt widerspiegelt.
[...]
* Auszug aus „Überall Bilder von perfektem Sex“, In: DER SPIEGEL 43/1999
4 Comments:
Ich wäre ja gespannt, mit welchen Methoden die beiden Jungs das Niveau der Literatur erfassen wollen?
Das über die Unterschiede zwischen USA und Europa ist wie immer Bullshit würde ich sagen. Gelaber. Weder Ellis noch Houllebecq können sich so ein Urteil noch anmaßen. Woher kennen die 'Die Literatur'? Ist ein bisschen umfangreich. Aber ein tolle Sprüche für'n Interview.
Bestes Beispiel Ellis zwar echt geiler, aber formal völlig konservativer Roman 'American Psycho'. Die Welt als reine Möglichkeit. Klassische Moderne. In old Europe Schnee von Gestern.
Dem Rest stimme ich zu.
Naja, die beiden sprechen ja wahrscheinlich, wenn sie „die Literatur“ sagen, von der Literatur, die sie wahrnehmen. Und ich finde, dass man sich ruhig ein solches Urteil über die Dinge, die man wahrnimmt anmaßen kann. Zumal es sich im Interview super anhört. Ich wünschte, mir würden solche Urteile im Interview einfallen. Und ich würde sagen, dass sie auch die Niveaus der Nationalliteraturen aufgrund einer bestimmten Wahrnehmung anhand bestimmter subjektiver Maßstäbe beurteilen. Klar besteht dann die Gefahr, dass die, von Autoren gesprochenen, Meinungen verabsolutiert aufgefasst werden.
Ellis Roman „AP“ als Beweis anzuführen verstehe ich nicht. Beweis für was denn? Enthält Dein letzter Absatz die Negierung der Aussage, dass die amerikanischen Autoren durchschnittlich besser schreiben als die europäischen?
Wenn das so sein sollte, müsste ich Dir widersprechen, da man, glaube ich, die Qualität von Literatur nicht abwerten sollte, indem man ihr vorwirft, sie sei formal konservativ und daher formal Schnee von Gestern. Zumal man auf Schnee von Gestern manchmal viel besser Schlitten fahren kann! Außerdem stimmt Dein Urteil der Konservative auch nicht so ganz. Schließlich benutzt Ellis für die Schilderungen des Serienmörders einen Ich-Erzähler und macht es dem Leser so unmöglich, sich in der Art zu distanzieren wie es z.B. bei einem auktorialen Erzähler möglich wäre. Dadurch entsteht über die Form eine Beziehung zwischen Figur und Leser (und auch Autor), die meines Wissens überhaupt kein alter Hut ist und ein Grund für die Skandalisierung des Romans war. Auch wird die Welt in „AP“ nicht ausschließlich als reine Möglichkeit dargestellt, da die meisten Bestandteile auf Beobachtung der Realität beruhen. Ebenso dürfte die bis zum Erbrechen praktizierte ständige Wiederholung und Aufzählung von Markenartikeln und Morden, die in dieser Art auch Bestandteil der Form sind, noch nicht zum zu alten Schnee gehören.
Keiner wertet hier Literatur ab, bloß weil sie sich formal konservativ daherkommt.
Das problem bei sogenannten Nationalliteraturen ist bloß, was ist das eigentlich? Wo ist die Globalisierung? Die in der Literatur ja eigentlich schon viel länger besteht als im politischen Diskurs. Wird Literatur amerikanisch, nur weil der Autor Amerikaner ist? Das wäre ein bisschen arg simpel gedacht. Romane tragen keine Staatsbürgerschaftsnachweise mit sich rum.
Und ja 'American Psycho' ist ein Gegenbeispiel dafür, die amerikanische Literatur als besser zu klassifizieren. Weil ich es schwer finde in dem Roman etwas spezifisch amerikanisches zu entsecken. Brett Easton Ellis steht formal viel deutlicher in der Europäischen Tradition der Moderne als in das angloamerikanischen Literatur. 'Konservativ' würde ich den Roman genau deswegen nennen. Postmodernes Romangedankengut, wie zum Beispiel die Wiederentdeckung des Mythologischen, liegt Ellis meines Erachtens fern. 'American Psycho' ist ein Großstadtroman, der sich mit urbanen Wahrnehmungsproblemen beschaftigt. Das eine Trdition, die in Europa geprägt wurde. Und ich würde sehr wohl darauf Bestehen, dass sich die Welt des Patrik Bateman in eine Welt der Möglichkeit zersetzt. Und mit Batemans Welt, die des Rezipienten, den Bateman durch diese Welt führt. In 'American Psycho' gibt es keine Realität mehr, die wahrgenommen werden könnte. Die Labels etc. sind Oberflächen hinter denen Realität verschwindet. Bateman weiß nie mit wem er eigentlich redet. Und irgendwann auch nicht mehr was er treibt. Er nimmt wahr. Aber eben keine objektive Realität. 'American Psycho' liefert ein Angebot mit dem der Rezipient arbeiten muss. Möglichkeiten, die der Roman nicht entscheidet. Einen Nachweis am Text zu bringen, ob Bateman tatsächlich den Schlachterhannes gibt, oder ob der sich das lustig einbildet, wird kaum zu erbringen sein. Und geht am Roman auch ziemlich vorbei. Die entscheidung treffen zu wollen zeugt lediglich von Lesegewohnheiten die noch konservativer sind als Ellis Text. Keine Frage, dass man selbst die, vor allem in der Tagespresse, auch bei namhaften KritikerInnen, noch vorfindet. Batemann liefert eine Möglichkeit der Welt. Eine Subjektivistische. Das es dem Leser unmöglich macht sich zu distanzieren halte ich für eine Gerücht. Das müsste man Beweisen. Die Distanz des Rezipienten ist eine Frage von Gewohnheiten, keine genuine Eigenschaft von Texten. Und außerdem dürfte es den Meisten kaum schwer Fallen sich von einem Charakter zu distanzieren, der eine Nutte auf dem Parkett festtackert, ihr ein Rohr in die Muschi steckt und ne Ratte reinkriechen lässt. Zumal du in Rechnung stellen musst, dass du bei der Identifikation als Mann sprichst. Bateman ist ein klar männlicher Charakter. Da dürfte die Identifikation beim weiblichen Publikum in Grenzen halten.
Das Ellis keine autorialen Erzähler anbringt, bedeutet romantheoretisch lediglich, dass Ellis formal nicht mehr im 19. Jahrhundert klebt. Wie gesagt, es handelt sich um einen Roman der (europäischen) Moderne.
Die Form wurde in Europa entwickelt.
Ich kann der Argumentation der Beiden nicht zustimmen, dass die Literatur Amerikas besser sein soll, weil das Land schlechter ist. Gut/schlecht ist eine moralische Kategorie, keine literarische oder politische.
Wer sagt, dass Amerika schlechter ist als Europa? In welchem Sinne?
Ich kann zum Beispiel finden, das Deutschland scheiße ist. Das wertet die Literatur dieses Landes kein bisschen auf. Zumal, was ist das Land? Ist die Literatur nicht Teil davon? Da müsste sie um besser zu sein, weil das Land schlecht ist. Aber wenn die Literatur Teil des Landes ist, das Land schlecht, aber die Literatur super, kann das Land schon nicht mehr schlecht sein. Es hat ja eine gute Literatur. Und wenn man Land und Literatur kategorisch entkoppelt, wie die Beiden, dann macht das Konzept einer Nationalliteratur keinen Sinn mehr und folglich auch nicht deren Argumentation.
Außerdem würde das Mit Houellebecq gesprochen bedeuten, dass Amerikaner anders, möglicherweise besser 'leiden'. Und da sind wir wieder bei den nationalen Stereotypen.
Einfache Antwort?
OK, ein diesbezügliches Abwerten hätte mich auch gewundert. Was die Nationalliteraturen sind, lässt sich ebenso einfach beantworten wie diese Antwort auch schwierig ist. Um die einfache Antwort zu wählen, und dieser Sichtweise hängen wohl auch die zitierten Autoren an, finden sich in den unterschiedlichen Nationen jeweils auch verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse mit verschiedenen gesellschaftlichen Problemen. Und vielleicht ist es so, dass sich diese spezifischen gesellschaftlichen Kontexte in den jeweiligen Nationalliteraturen eher wiederfinden als sie dies in anderen Nationalliteraturen tun.
Wo ist die Globalisierung?
Was die Frage nach dem verbleiben der Globalisierung anbelangt, so würde ich behaupten, dass sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen „verschiedener“ Nationen im Begriff sind, sich einander zu nähern. Ich weiß aber nicht, ob diese Voraussetzungen verschiedener Nationen jemals in der Weise äquivalent sein werden, dass die Unterschiede zwischen der Nationalliteraturen komplett aufgehoben sind, auch wenn es sicherlich zahlreiche Beispiele geben wird, in denen sich z.B. ein europäischer Auto dem „typischen Stoff“ einer US-amerikanischen Gesellschaft bedient.
Andererseits:
Vielleicht beruhen die Literaturen auch nur auf Zufällen, in dem Sinne, dass es auf die spezifischen Autorensichtweisen ankommt, welcher Themen diese sich bedienen, wobei das Emporkommen ebenso auf zahlreichen Zufällen und Glück beruht. Einem anderen Autoren wie Ellis wären die Umstände der 80er und die zuwidere Yuppie-Gesellschaft vielleicht gar nicht genug auf den Geist gegangen, um darüber zu schreiben, bzw. vielleicht hätte dann ein europäischer Autor die Beobachtung dieser Verhältnisse gemacht und darüber geschrieben, wobei das, denke ich, etwas anderes gewesen wäre, als wenn ein Amerikaner die eigenen Träume und Mythen demontiert.
Und in diesem gerade angeschnittenen Punkt, in Ellis Wahl des Stoffes, den er in „American Psycho“ umsetzt ist, denke ich, das zu sehen, wovon die beiden Autoren sprechen, wenn sie von tendenziell (!) besseren oder schlechteren Nationalliteraturen sprechen. Ich denke nicht, dass sie bei ihren Worten schon an eine Wertung formalästhetischer Gesichtspunkte dachten. Welchen Techniken sich ein Autor für die Umsetzung seines Themas bedient hängt wahrscheinlich in anderer Weise mit den soziokulturellen gesellschaftlichen Voraussetzungen zusammen als die Wahl eines Stoffes, eines Themas und der Motive.
Das typisch amerikanische in „American Psycho“ dürfte also in jedem Fall der Stoff sein.
Mythos?
Dass Ellis die Wiederentdeckung des Mythologischen fern liegt würde ich nicht ohne Weiteres unterschreiben. Schließlich belebt er mit Bateman in der modernen Gesellschaft gleich in mehrfacher Hinsicht den Vampirmythos neu. Und das zum einen auf inhaltlicher Ebene und zum anderen durch die Namensähnlichkeit zu Batman, womit gleichzeitig der Mythos vom Superhelden (im Fledermauskostüm), der für das gute kämpft, auf den Kopf gestellt wird. Dann wird schon durch den Titel „American Psycho“ der amerikanische Ur-Mythos des „American Dream“ aufgegriffen und demontiert, was sich im Verlauf der Geschichte durch die „Taten“ einer Person ausweitet, die genau für diesen „American Dream“ steht, dem so viele Amerikaner nacheifern, weil sie diesen Traum schon mit der Muttermilch aufsaugen.
[Nur am Rande: Im Roman steht übrigens Batemans Sekretärin Jean als einzige Vertreterin einer Mittelschicht, die durch ihre Bewunderung des „American Psycho“ und seines Lebensstils, die Befolgung seiner Moderatschläge und das damit einhergehende Streben nach Erfolg, ebenso Ausweglos in der Hölle, wie alle anderen Figuren, weil sie diesen „hohen“ Lebensstandart anstrebt und im Begriff ist, ihr Wesen genauso zu verlieren, wie alle Figuren, die diesen Standart schon leben.]
Außerdem wird durch das anfängliche Dante Zitat darauf hingewiesen, dass sich Leser und Figuren in der Hölle befinden, womit ein weiterer Mythos angesprochen sein dürfte. Ob das der von Dir angeführten „Wiederentdeckung des Mythologischen“ entspricht, weiß ich nicht.
Zur Welt als Möglichkeit:
Wenn wir einmal ausklammern, dass der Roman ja sowieso Fiktion ist, bleibt die Frage, ob Batemans Welt vom Leser als objektiv real betrachtet werden kann oder als bloß subjektive Ausmahlung von Batemans Hirngespinsten. Das zweite wäre, wenn ich Dich richtig verstanden habe die Welt des Patrick Bateman, die sich als Welt der Möglichkeit zersetzt. Der Roman liefert meiner Ansicht zwar Indizien aber nicht genügend Beweise dafür, dass Bateman sich seine Welt nur als eine mögliche ausdenkt, obwohl mir dieser Interpretationsansatz auch gefällt. Ich finde aber, dass die Oberflächlichkeit der Labels nicht eine Oberfläche darstellen, hinter denen die Realität verschwindet. Die Labels sind diese Realität. Die oberflächlichen Menschen sind diese Realität. Das alles wird wahrgenommen. Das Problem dieser Realität der Oberfläche ist ja nicht, dass man die Realität hinter der Oberfläche nicht mehr wahrnehmen kann, das Problem ist, dass die Realität hinter der Oberfläche auch Oberfläche ist. Das Problem ist, dass alles seine Individualität seine Bedeutung verloren hat. Deswegen verwechseln sich alle ständig und deswegen läuft auch die Kommunikation im Roman immer ins Leere, weil sogar die Benennungen ihre Bedeutung verloren haben. Ob sich Bateman diese Verwechslungen und leere Kommunikation nur einbildet lässt Ellis, denke ich, bewusst unaufgelöst. Ich weiß aber auch nicht, ob es wirklich wichtig ist, ob Batemans Welt real oder Möglichkeit ist. Darin scheinen wir beide übereinzustimmen. Ich würde aber nicht sagen, dass Bateman eine Möglichkeit der Welt liefert, sondern dass Ellis durch die gewählte Ambivalenz mindestens zwei Möglichkeiten dieser Welt liefert. Schließlich können wir bei Romanfiguren doch immer nur von Möglichkeiten reden, die sie uns liefern. Wenn Du allerdings Bateman die subjektivistische Welt zuordnest, hast Du Dich doch schon in konservativer Lesegewohnheit für eine Seite der Medaille entschieden, oder sehe ich das falsch?
Was die Distanz betrifft
Ich halte es nicht für beweisenswert, dass der Leser von einem Ich-Erzähler auf andere Art in einen Roman hineingezogen wird als von einem auktorialen Erzähler. Und für logische Theorien Beweise zu fordern halte ich für unnötig. Du willst mir doch nicht erzählen, dass Deine Lesehaltung die gleiche ist, egal aus welcher Perspektive erzählt wird. Ganz gleich welche Lesegewohnheiten jemand hat, spielt es eine gewisse Rolle, ob man die ganze Zeit hört, ich schlitze ihr die Bauchdecke auf, wobei mir Blasen von Blut entgegenblubbern, wie es Gase in einem Moor bewirken und reiße ihre schmatzenden Därme mit vollen Händen heraus, oder ob man die ganze Zeit hört, er bekam das Bild seiner Mutter nicht aus dem Kopf, als er die Prostituierte nun vor sich liegen sah und mit dem Messer ausholte, um ihr die Bauchdecke aufzuschneiden, worauf ihm Blut entgegenblubberte, wie es Gase in Mooren bewirken. Als er mit seinen Händen unter die Bauchdecke langte und die Därme schmatzend herausriss, verzog er seine Mundwinkel zu einem feisten Grinsen und dachte nun endlich nur noch an Blut.
Du begehst in Deiner Argumentation pro einfacher Distanzierung den gleichen „Fehler“, den seiner Zeit die „Kritiker“ des Romans machten als sie „American Psycho“ oft aufgrund selektiver Lektüre zum Teufel jagten. Bateman bietet anfänglich für viele Leser sehr wohl Identifikationspotenzial, da es am Anfang gar nicht so aussieht als ob Bateman der Psychopath sei. Er ist reich, erfolgreich, sexy und kennt sich in allen In-Fragen bestens aus. Zudem ist er der einzige, der Monologe zur Lösung gesellschaftlicher Probleme hält. Bevor der erste Mord geschieht, ist man schon ziemlich weit drin in der Geschichte, ganz egal, wie weit Mann oder Frau sich aufgrund von Lesegewohnheiten mit den Figuren der Romane identifizieren; und das tut bis zu einem bestimmten Grad jeder immer, ob positiv oder negativ.
Was die von Dir beschriebene Szene anbelangt, so gilt für sie, wie auch für die meisten anderen Szenen dieser Art, was auch für den Roman im großen gilt. Erst bekommt der Leser eine pornografische Situation geschildert, eine Schiene, auf der die Leser geradewegs in die Horrorhöllenszenarien hineinschliddern. Inwieweit in der Pornografie Identifikation zum tragen kommt, ob Neugier oder Voyeurismus eine Rolle spielt kann ich nicht beantworten. Vielleicht alles. Auf jeden Fall machen die Szenenanfänge den Distanzaufbau noch nicht nötig. Und wenn die Szene kippt dürfte dieser Aufbau tendenziell von der Ich-Perspektive schwieriger sein als von der Auktorialen. Aber ich bleibe hier wahrscheinlich im Bereich der kognitiven Spekulation.
Die Kategorien gut / schlecht
Wieso sind gut/schlecht moralische Kategorien? Bezogen auf Literatur widerspreche ich Dir da. Bezogen auf Nationen ist das vielleicht etwas anderes. Aber auch bei den Zuordnungen Amerika ist böse / Europa ist gut dürfte es sich bei beiden Autoren doch wieder um subjektive Wahrnehmungen handeln. Ich denke, dass viele Autoren mit Ihren Werken auf bestimmte Auffälligkeiten ihres soziokulturellen Kontextes antworten. Ich glaube nicht, dass die beiden Autoren im Interview einen so ausgedehnten Begriff der Nationen verwenden wie Du ihn unterstellst. Ich würde Ihre Behauptung dahingehend verstehen, dass Gesellschaften und Autoren wie Diskussionspartner zu betrachten sind. Die Gesellschaften stellen bestimmte Zustände zur Diskussion in den Raum und die Autoren antworten darauf. Und das Antworten hat nichts mit gutem oder schlechtem Leiden zu tun, sondern eher mit Aktion / Reaktion oder mit Beobachten / Schreiben. Außerdem verabsolutieren die beiden Autoren nicht, sondern sie sprechen jeweils von Tendenzen, die sich ja bis heute vielleicht schon wieder gedreht oder im Gedenken an die Globalisierung einander angenähert haben. Vielleicht schreiben die Amerikaner mittlerweile genauso schlecht wie die Europäer (nur Spaß). In diesem Sinne halte ich Deine abschließenden Anmerkungen bzgl. Land/Literatur/Nationalliteratur und die jeweilige Unterscheidung für Wortklauberei, die auch nur in dieser Darstellung der Extreme funktioniert, dabei aber außen vor lässt, dass Anhänger des Konzepts von Nationalliteraturen gerade auf der Suche nach den gegenseitigen Verbindungen und Durchdringungen sind.
Ich kann die Argumentation gegen ein Vorhandensein von Nationalliteraturen nicht teilen und bin auch der Meinung, dass man diese Literaturen anhand bestimmter stofflicher Merkmale sehr wohl voneinander unterscheiden kann. Ob letztendlich die These unserer beiden Autoren Bestand haben kann, das ein Land mit mehr Missständen auch tendenziell die bessere Literatur produziert, klingt für mich nur in soweit logisch, dass die ansässigen Autoren aus einem gefüllteren Thementopf mit direkterem Bezug schöpfen können. Aber zwischen Thema und guter Literatur steht immer noch die Genialität der Umsetzung und die Definition von gut und schlecht.
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