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Donnerstag, Januar 13, 2005

Tagebuch Nr. 1

Heute: Vorlesung bei Professor Dr. Stanitzek, Thema ist der Essay. Ich bin ordentlicher Student der hiesigen Universität, sitze in der ersten Reihe. Essay, man kennt das: Geist, Spontanität, Enzensberger. Sonntag, Susan, tot. Heute ist Donnerstag. 12:15. Die Vorlesung beginnt mit dem Hinweis auf die wohl momentan laufende Wahl des Studentenparlaments und auf zwei Zettel, die durch die Reihen gegeben werden sollen, aber mir Einsichtnahme in deren Inhalt dann doch verwehrt bleibt, da Prof. Stanitzek bei näherer Sichtung des mir verborgen bleibenden Inhalts die Erkenntnis gewinnt, das jener, verborgen bleibender Inhalt an Aktualität entscheidende Einbußen hinnehmen musste, da die bezeichnete Wahl des Studentenparlaments bereits an den beiden vorangegangenen Tagen abgehalten wurde, dem 10. und 11. Januar und somit heute, am 13., darauf verzichtet werden kann, uns mit dem Inhalt der beiden Zettel, die durch die Reihen gegeben werden sollten, vertraut zu machen. Unabhängige Beobachter rechnen nicht damit, dass die 7,5% Wahlbeteiligung des letzten Jahres erreicht werden kann. "Anyway", hofft Professor Stanizek, dass die Studierenden ihre Stimme nicht verschenkt haben. Hoffnung erfüllt, meine Stimme nicht verschenkt, mehr für mich behalten.
Vormittag folgendermaßen verbracht: Aufgestanden, Zähne geputzt, in die Uni zum Prüfungsamt marschiert. Die Anmeldung zur Abschlussprüfung, der Grund für das Aufstehen, weniger fürs Zähneputzen, kann am diesem Morgen jedoch nicht entgegen genommen werden. Das wird von einem Schild an der Tür des Prüfungsamtes verhindert, dessen Inhalt mir Mitteilt, das im Prüfungsamt eine Sitzung stattfindet, zu deren Störung ich nicht Eingeladen bin. Die Dauer der Sitzung wird mir, von einer netten Dame, die zu der Sitzung offensichtlich eingeladen wurde mit "Keine Ahnung" beziffert, open end.
Dann wandere ich eben ein wenig durch die Gänge. Alles zugekleistert mit Wahlplakaten hier, an einigen Stellen sind Plakate, die für die Zeitschrift werben, an deren Herausgabe ich beteiligt bin, überklebt, an anderer Stelle die Werbung für ein längst vergangenes Kolloquium. Diese Plakate habe ich entworfen. Und mir gefallen sie immer noch. Freundliche Typographie, sacht e angelehnt an die historische Avantgarde. Scheißdreck. 7,5% Feigenblatt-Demokratie überlagert Kunst und Wissenschaft. Welch ein Bild. Nicht mal Mühe hat man sich gegeben, beim überkleben wenigstens einen einigermaßen ansprechenden Collageneffekt zu erzielen, einfach drüber geklatscht. Aber die Sprüche auf den bunten Asta-Fetzen hätte kein Surrealist besser hinbekommen: Bettina Hirsch, Direktkandidatin Fachbereich 5, Fotoüberschrift: Esst mehr Spinat! Man weiß nun in der Postmoderne leider nie so genau, ist das nun die werbepsychologisch geschulte Gier Aufmerksamkeit zu Erzeugen, mit provozierend-irritativen Slogans, oder ernstzunehmendes hochschulpolitisches Programm? Vegetarier sind bei den Linken ja stark vertreten. Wieso weiß Keiner. Spontan fällt mir nur ein historisch-politisch relevanter Vegetarier ein: Hitler (der glaubte wahrscheinlich das VegetArisch zu Leben, lebendig-arisches Dasein bezeichnet).
"Anyway", auf den Plakaten der DLL (Deine Lieblingsliste, ein weiterer Politverein aus dem „Paradies auf den Hügeln“) heißt es Quadratisch, Praktisch, Gut! Eines neben dem anderen: Quadratisch, Praktisch, Gut! Die Plakate sind rechteckig. Wie Grabsteine. Die Kandidaten: Quadratisch und praktisch. Hm gut, quadrat ins englische übersetzt: square! Squares sind Quadratschädel, Spießer, Unbewegliche, Zombies. Das Gegenteil eines hipsters, amerikanische Kulturgeschichte der 50ziger Jahre, Ende. Jetzt sind die 60ziger dran. Irgend so ein Idiot hat "Immernoch dein Mann im Klassenkampf" auf seinem Plakat stehen. Immernoch, Klassenkampf? Für was für eine Klasse kämpfen die? Während die in ihren Fachschaftsräten sitzen und sich mit Donuts voll stopfen? A class of it's own. Brüsten sich immer damit unsere Kopierer nachzufüllen. Aber "Ich will niemanden zur Arbeit bewegen", nur ein weiterer dumpfer Spruch. Warum kann nicht irgendein arbeitsloser Asylant, vorzugsweise Moslem, die Kopierer nachfüllen? Ökonomisch und Integrativ, dann lernt der gleich Westeuropas mittelklasse Irrsinn aus der Nähe kennen. Und wenn wir ganz großes Glück haben, dann macht er tatsächlich, was der letzte hier zitierte demokratische Wahlslogan vorschlägt, und nimmt es leicht: "Nimm’s leicht, nehm’ Dynamit". Ein wahrhaft heiliger Krieg, wie früher in Afghanistan. Mudschaheddin gegen Stalinisten, die es 2003 noch nicht ertragen konnten Hitler und Stalin nebeneinander auf einer Seite abgebildet zu ertragen ("Diese Gleichsetzung geht schon mal gar nicht.") und nicht ertragen konnten, nicht alles im Leben politisch und blind sein muss.
Mit diesen noch vormittäglichen Gedanken im Kopf geht die Essayvorlesung zu Ende und eigentlich ist es schade wie wenig ich jetzt von Enzensberger und Schiermacher mitbekommen habe, die gerade sicher zusammen in einer sicheren Ecke hocken und heulen, weil es mit Bildung, Kultur und dem ganzen BlaBla den Bach runter geht. (Wie üblich sind natürlich die Medien daran Schuld.) Und es ist ja auch richtig, es geht den Bach runter mit der Bildung, der Kultur und dem christlichen Abendland. Nur hat das Fernsehen damit reichlich wenig zu tun, kein Enzensberger wird mir weismachen können, Massenunterhaltung hätte irgendwann mehr Niveau gehabt als der Bulle von Tölz. Schön waren die Zeiten als die Arbeiterklasse nur Goethe und Schiller in Sinn hatte. Dumm sind die intellektuellen Möchtegernführer, die immer noch nicht davon gehört haben, das es zu den konstanten im fluiden Erinnerungsvermögen des Einzelnen gehört die Vergangenheit verhältnismäßig positiver zu sehen als sie tatsächlich erlebt wurde. Und sich eben das vom einzelnen in die Gesellschaft überträgt, die aus der Kommunikation der Massen gemacht wird. Und zu den Massen gehören auch die Herrn die sich mit ihrem Gejammer vom Ende der Kultur der Arsch vergolden lassen. Wofür sind Herr Enzensberger und Herr Schiermacher verantwortlich? Verdienen an medial vermittelter Medienkritik? Warum nicht mal die traurigen Gesichter von den Seekarten losreisen und lachend dem Sturm begegnen, dem Untergang entgegen gehen. Mitteleuropa verreckt. Na und?
Auf dem Heimweg beobachte ich Karl Riha, den „Oberdada“, im Mensafoyer. Riha ist seit Jahren Emeritus, treibt sich trotzdem weiter an der Uni herum, zieht singend durch die Gänge, stört wichtige Sitzungen und erzählt unverständliches Zeug. Einmal hat er einer Oma, die mich nach dem Weg zur Mensa gefragt hat, damit zugeblubbert, dass junge Männer mit kurzrasierten Haaren immer sehr seltsame Auskünfte erteilen würden als er zufällig vorbeikam. Die arme Frau wusste überhaupt nicht was los ist. Und mit den Stories, die Riha über Adorno zum besten geben kann, will ich gar nicht erst anfangen.
„Anyway“, Riha überzeugt im Mensafoyer eine mongolische Mutter mit ihren kleinen Jungen, der in seinem Kapuzenanzug wie Kenny „verdammt sie haben ihn getötet“ von Southpark aussieht, ihm in die Sparkassenfiliale, die unsinniger weise statt der Commerzbank im Mensafoyer errichtet wurde zu folgen, wo er dem Sparkassenheini für den Kleinen Schokolade abschwatzt. Dann kommt Riha zu mir: „ Der ist so süß, da muss man doch einfach mal Fragen ob mal was für den bekommt.“ Der Junge straht und alle hier halten Riha für einen Irren. Wahrscheinlich hat die Mehrheit wie immer recht, that’s democracy. Aber der kleine Mongolenjunge strahlt, Riha entfernt sich und auch ich gehe den Gang hinunter und merke kaum noch wie ich tatsächlich anfange zu singen.