Vor einigen Tagen schickte mir eine Freundin, die sich momentan für einen längeren Zeitraum in Paris aufhält, eine E-Mail. Darin beschreibt sie Ihre Eindrücke von den derzeitigen aufständischen Verhältnissen dort:[...] wie ihr wahrscheinlich alle mitbekommen habt wird unser aufenthalt hier seit ueber einer woche ueberschattet von den ausschreitungen in den vororten von paris. ich weiss nicht so genau wie viele informationen man in deutschland so bekommt, aber das ganze ist eine ziemlich komplexe geschichte. die probleme, die hier in paris vor allem mit den muslimischen, afrikanischstaemmigen auslaendern herrschen, sind unvorstellbar! zu den schlimmen lebenumstaenden, der perspektivlosigkeit und den ueblichen problemen mit dem leben zwischen zwei kulturen auf seiten der schwarzen banlieue bewohner gesellen sich von seiten der franzoesischen regierung und teilen der gesellschaft eine gehoerige portion rassismus und ein gnadenloser, in teilen aggressiver umgang mit schwarzen jugendlichen von seiten der polizei und sicherheitskraeften. auch die tatsache, dass in der oeffentlichkeit eine diskussion und auseinandersetzung ueber die franzoesische geschichte nicht stattfindet spielt sicherlich eine rolle. der geschichtsunterricht an den franzoesischen schulen ist diesbezueglich katastrophal... der algerienkrieg hat demnach gar nicht stattgefunden, die verbrechen der kolonialzeit werden weitestgehend ausgespart!
in den neunzigern kam es immer wieder zu ausschreitungen wie momentan. anfang der neunziger wurden aufgrund der krawalle erstmals oeffentlich die probleme der banlieues diskutiert. veraendert wurde bisher nur wenig. seit jahren werden vereinzelt alte, praktisch nicht mehr bewohnbare hochhaeuser abgerissen und durch neue ersetzt, an der problematik aendert dies nichts.
jetzt war es bereits seit fast vier jahren relativ ruhig in paris. bis drei jugendliche, die angeblich von polizisten "gejagt" wurden, in einem trafo gebaeude stromschlaege erlitten, an denen zwei starben. sofort nach dem trauermarsch fuer die toten jugendlichen gab es erste ausschreitungen. anfangs nur in den ganz noerdlichen vororten. jede nacht haben sich die ausschreitungen ausgeweitet, mittlerweile herrscht der strassenkrieg schon zwei banlieues von mir entfernt. die ganze nacht sirenen...seit zwei naechsten breiten sich die krawalle auf fast alle grossen staedte in ganz frankreich aus und letzte nacht waren die jugendlichen das erste mal auch in der innenstadt!
die szenen, die sich da jede nacht abspielen sind unvorstellbar, zumindest fuer uns, die pariser lassen sich da nicht so schnell schocken, die kennen das ja schon. trotzdem merkt man, dass mittlerweile alle nervoeser werden. die situation spitzt sich zu. es werden nicht mehr nur noch autos, sondern schulen, altenheime, voll besetzte busse usw angezuendet. die jugendlichen organisieren sich immer besser und bezeichnen die krawalle als ihren krieg, gegen sarkozy, den innenminister, und die polizei.
sarkozy ist ein ganz gefaehrlicher hund. von den medien wird er nur noch der pyromane genannt, da er durch seine aeusserungen ueber die schwarzen jugendlichen
einen grossen teil dazu beigetragen hat, dass die lage so eskaliert. wir haben alle angst, da jeden tag neue und haertere aeusserungen sarkozys in den zeitungen stehen. in seinen augen, laesst sich die regierung seit tagen von den jugendlichen auf der nase rumtanzen, er fordert immer haertere vorgehensweisen gegen die jugendlichen. ich befuerchte, dass die polizei schon bald zu schlimmeren mitteln greifen wird, um die jugendlichen zu stoppen. die auseinandersetzungen zwischen polizei und jugendlichen werden immer gewaltvoller...
tja, das war jetzt ein kleiner einblick in das thema, dass grad das ganze land bewegt. alle sind ziemlich beaengstigt ueber die entwicklung. keiner glaubt mehr, dass sich die lage einfach so wieder beruhigen wird, alle glauben, dass die wirkliche eskalation noch kommt...
trotz allem laeuft das leben, zumindest tagsueber und abgesehen von den ausgebrannten autos und gebaeuden, die einem jeden morgen eine gaensehaut verpassen, ganz normal. wir sehen halt nur alle zu, dass wir nach 19 uhr aus den entsprechenden banlieues verschwinden. einer aus unserer gruppe hilft beim organisieren eines festivals, das seit ueber einer woche laeuft. wir sind bisher nur zu einem der konzerte gegangen, da die anderen in zu gefaehrlichen gebieten stattfanden! heute ist ein konzert auf das a. und ich uns schon lange freuen und wir haben eben beschlossen da trotz allem hin zu gehen. jetzt bin ich mal gepannt... [...]
Die E-Mail stammt vom 06. Nov. 2005. Mittlerweile hat Frankreich wieder ein Notstandsgesetz von 1955 in Kraft gesetzt, nach dem von Mitternacht an örtliche Ausgehverbote verhängt werden konnten. Das Gesetz wurde damals im Zusammenhang mit der Algerienkrise und den Kolonialkriegen erlassen. Nun findet es in den Vierteln Anwendung, in denen sich die Kinder und Enkelkinder jener Kolonialisierung befinden.